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Der Auserwählte (eine Geschichte aus zwei Perspektiven)


Eine Geschichte über eine Dame, die hofft, dass ein Herr ihre innere Leere füllt:


Früher oder später trifft es fast jede Dame aus dem Escort-Gewerbe: sie verliebt sich. Da steht er in der Tür, der Auserwählte, und tut diese Dinge, die gerade passen, die gerade richtig sind und sie verliebt sich. Die Dame steht in Flammen, das Herz pocht und in der Magengegend kribbelt es. Sie wird weich, vergisst, was sie tut und zerfließt wie angewärmte Butter.


Der Retter ist gekommen. Endlich wurde sie erhört, und da steht er nun vor ihr. Er ist gekommen, um sie zu lieben, ihr die Nähe zu geben, die sie sucht. Er ist gekommen, um sie zu umarmen, innig zu küssen und ihr das zu geben, nach was sie sich sehnt.  Er ist gekommen, um sie aus ihrem Alleinsein zu erlösen und sie stets zu umgarnen. Er ist der Auserwählte, der ihre Bedürfnisse stillt.


Das alles glaubt sie und ist versucht, sich selbst anzubieten. Nicht ihren Körper, wie sie es sonst tut. Nein, sie bietet sich selbst an: sie möchte nicht, das er, der Auserwählte, bezahlt. Sie möchte, das er mit ihr schläft, sie liebkost, sie küsst und in den Arm nimmt. Sie möchte, dass es sich so anfühlt, als habe er sie außerhalb ihrer Tätigkeit kennengelernt und gewählt. Sie möchte, dass es sich so anfühlt, als habe er sie um ihrer selbst außerwählt und nicht gebucht, damit sie ihm für das gezahlte Geld willig ist.


Und sie lässt die Distanz, das Honorar fallen. Die Dame glaubt, dass er, wenn er nicht mehr zahlen muss, sich verändert, sich um sie kümmert, mit ihr ausgeht, seine freie Zeit mit ihr verbringt. Zeitweise glaubt sie wahrscheinlich, dass sie einen Partner gefunden hat. Endlich hat sie den Partner gefunden, mit dem sie ihr Leben teilen möchte.


Der Herr nimmt das Angebot an. Er sagt nicht nein. Zu verführerisch ist der Gedanke, dass er sie besuchen kann, wann er möchte, ohne ihr das Honorar zu zahlen. Zu verführerisch ist der Gedanke, dass eine Frau, die so viele Männer hat, ausgerechnet ihn wählt. Zu mächtig ist die Versuchung. Er nimmt das Angebot an und fühlt sich geschmeichelt und begehrenswert.


Er sagt ihr, welch wunderbare Frau sie ist und wie sehr er sich freut, sie ganz oft zu besuchen und wiederzusehen. Vielleicht lässt er sich auch dazu hinreißen, ihr zu sagen, dass sie die einzige in seinem Leben sei. Der Konsequenz aus seinem Handeln ist er sich möglicherweise nicht bewusst. Noch nicht. Beschwingt ihn doch die kleine Schmeichelei, die sich ein bisschen wie Verliebtsein anfühlt. Er besucht sie in den ersten paar Wochen ihres „Zusammenseins“, sooft er kann, sooft es seine Zeit und sein Alltag es zulassen. Er schmeichelt ihr virtuell oder ruft sie ab und zu an, wenn er sie nicht besuchen kann.


Und dann erscheinen die ersten privaten Nachrichten von ihr auf seinem Handy. Die ersten Liebesbekundungen der Liebesdienerin, die ersten Fragen, wann er wiederkomme und dass sie sich nach ihm sehne und warum er so wenig Zeit habe. Diese Nachrichten, die er nie bekommen hätte, hätte es die Honorarschranke gegeben.


Er muss schauen, wie er das hinbekommt mit der neuen Frau in seinem Telefon, die er eigentlich nur besuchen wollte, um sie zu vögeln. Er muss schauen, wann er ihr ungestört schreiben kann, ist doch noch eine Frau in seinem Leben, die davon nie etwas mitbekommen darf.


Plötzlich ist er sich bewusst, was er mit der Annahme des Angebotes, die Distanz in Form des Honorars fallen zu lassen, getan hat. Er wird sich bewusst, dass es gefährlich sein könnte für sein gewohntes Leben. Und dann meldet er sich immer weniger bei dieser Dame, die ihm verfallen ist. Sie ist – das muss er zugeben – auch schon ein bisschen langweiliger geworden. Er kennt sie immer näher. Er kann zu ihr kommen, wann er möchte, der Sex droht zur Gewohnheit zu werden und außerdem gibt es noch einiges in seinem Leben, das er nicht aufs Spiel setzen möchte. Und diese Dame kommt immer näher und näher und für ihn wird es immer gefährlicher und gefährlicher.


Er zieht sich zurück und die Dame fühlt sich verlassen: ist die Rechnung vom Retter dann doch nicht aufgegangen?

 

Es kommt zum Bruch.


Wären beide auf der Honorarebene geblieben, hätten sie möglicherweise mehr davon gehabt:


Vielleicht wäre er immer wieder zu ihr gekommen und sie hätte die Zeit mit ihm genießen können und er wiederum hätte nach dieser gemeinsamen Zeit unbehelligt gehen können, ohne den Druck zu haben, diese Dame möglichst unbemerkt in seinen Alltag integrieren zu müssen...


Eine Geschichte über eine Dame, die eine prickelige Affäre mit einem Herrn genießt und lernt, sich selbst genug zu sein:


Sie macht die Tür auf und erstarrt. Sofort zieht der Fremde sie in seinen Bann. Er schaut auf sie herab, kommt langsam näher, tritt ein, zieht sie an sich, nimmt sie fest in den Arm und küsst sie. Seine Hände halten ihren Kopf. Sie gibt sich seinen innigen Küssen hin. Immer und immer wieder küsst er sie. Lang und intensiv.


Irgendwann fragt er behutsam, ob er sich auch ausziehen dürfe. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass schon einige Zeit vergangen war. Begrenzte Zeit. Eine Stunde hatte er gebucht. Er zog sich aus und verschwand im Bad, um eine Dusche zu nehmen.


Sie wartete aufgeregt im Schlafzimmer auf ihn. Ihr Herz pochte, ihr Bauch füllte sich mit Schmetterlingen, ihr Körper stand in Flammen. Sie begehrte ihn auf den ersten Blick und sehnte sich nach seinen Küssen, seinen warmen Händen, nach seinem Gesicht und danach, wie er sie anschaute und berührte.


Die Dame legte sich auf das Bett und wartete mit geschlossenen Augen auf ihn. Sie hörte ihn aus dem Bad kommen und das Kribbeln in ihrem Körper breitete sich zu brennendem Verlangen aus. Sie wollte ihn. Seine Nähe. Diese Hände, den wunderbaren Mund. Sie stöhnte auf, als er sie berührte und wieder küsste. So gut taten ihr die Berührungen, so gut taten ihr die liebevollen Hände, so gut taten ihr seine heissen Küsse. So gut tat es ihr, als er in sie eindrang und mit ihr schlief. Die Dame gab sich ihrem Verlangen nach diesem fremden Herrn ganz und gar hin und erlebte eine magische, eine leidenschaftliche Begegnung, die sie immer wieder im Körper spürte, wenn sie später diese Begegnung in ihrem Geist aufleben ließ.


Die Zeit, die sie zusammen hatten, schmolz, und die Zeit kam, dass sie auseinandergehen mussten. Er hatte noch zu tun und sie hatte noch zu tun. Der Herr bezahlte ihre Dienste und verabschiedete sich mit einem langen Kuss.


Lange noch hallte diese Begegnung in ihrem Kopf nach und sie reproduzierte in ihrem Geist immer wieder das Erlebte. Die Dame hoffte insgeheim, dass er wiederkam. Doch er kam nicht mehr. Manchmal schrieb er ihr und fragte, wo sie sei und stellte einen Besuch in Aussicht, aber er kam nicht. Und dann meldete er sich gar nicht mehr. Sie vergaß ihn.


Anderthalb Jahre waren vergangen seit dieser Begegnung und plötzlich tauchte er auf. Der Herr war wiedergekommen. Er war wieder da: eine Nachricht von ihm auf ihrem Handy. Eine Terminanfrage für den nächsten Tag. Er könne die Zeit mit der Dame nicht vergessen und würde sie gerne wiedersehen. Sie einigten sich auf ein Treffen. Sie konnte es nicht glauben und wartete auf eine Absage, weil er es sich vielleicht anders überlegt hat, aber die kam nicht. Vor lauter Auf- und Erregung konnte sie keinen Termin mehr annehmen an diesem Tag. Sie wartete. Auf ihn. Auf seinen Mund, seine Hände, seine Blicke. Sie wartete auf seine Berührungen. Sie spürte diese Begegnung bereits in ihrem Körper und zwischen den Schenkeln.


Abermals stand er am nächsten Tag in ihrer Tür. Ihr Herz hüpfte, ihr Körper bebte. Er beugte sich zu ihr hinunter und nahm sie in seine Arme. Der Herr küsste die Dame lang und innig. Sie schloss die Augen und gab sich diesem Feuer, das er in ihr ein zweites Mal entfachte, hin. Sie liebten sich. So könnte man es nennen. Sie liebten sich liebevoll und zart und behutsam. Sie liebten sich wild und leidenschaftlich und fordernd.


Die Zeit lief. Etwas mehr Zeit, als beim ersten Treffen. Sie hatte ihm etwas mehr Zeit zugesprochen, als es das Honorar zugelassen hätte. Die Dame wollte das so. Sie wollte ihn spüren, so lange es ging. Doch irgendwann war die Zeit abgelaufen. Sie war vorbei. Er musste gehen und zog sich an. Die Dame wollte das nicht und er vielleicht auch nicht, aber er hatte Termine und sie auch.


Sie bot es ihm an, bevor er ging. Sie wollte ihn wiedersehen. Rasch. Sie wollte ihn wieder spüren, seinen Mund, seine liebevolle Art und seine Geilheit. Das Feuer in ihr brannte. Sie bot sich an. Die Dame wollte ihn wiedersehen, privat und ohne Honorar. Sie wollte dieses Honorar nicht, sie wollte ihn nicht als Geschäftsbeziehung, wollte die Distanz löschen. Ihn öfter sehen. Ihn oft spüren.


Der Herr war auch entfacht von diesem Feuer des Begehrens. Er wollte sie. Ganz. Er ließ sich ein auf ihr Angebot. Vielleicht war er geschmeichelt, vielleicht stellte er sich mehr vor. Die Dame weiß das nicht so genau. Es fühlte sich mal so und mal so an. Er stellte mehr als diese erotischen Begegnungen in Aussicht. Ein richtiges Date mit Essen und Kennenlernen. Er stellte das in den Raum, doch es passierte nicht.


Mit der Zeit zog der Herr sich etwas zurück oder war es vielleicht auch die Dame, die sich zurückzog? Es schmerzte ein wenig. Sie trafen sich nicht mehr so oft, aber wenn sie sich trafen, immer mit derselben Leidenschaft, demselben Verlangen und derselben Hingabe. Es schmerzte sie, wenn er ging. Es schmerzte sie, wenn er sich nicht mehr so oft meldete, aber sie tat es auch nicht.


Die Dame kam irgendwann zu der Erkenntnis, dass er die Leere, die sich manchmal in ihr auftat, nicht füllen konnte. Das musste sie schon selbst tun. Sie sollte lernen, sich selbst genug zu sein. Sie sollte voller Dankbarkeit auf das Schauen, was sie erfährt und wie viele wundervolle Menschen und Momente ihr Leben bereichern.


Diese Dame sollte auch darauf schauen, wie wunderbar sie ist und wie vielen Menschen sie Lust und Wärme und Nähe gibt. Diese Dame sollte erkennen, dass das, was sie gibt wieder zu ihr kommt und dass sie das, was zu ihr kommt, weitergibt.


Und sie erkennt es. Immer mehr. Und mehr.


Die Dame beschließt, ihn nicht zu drängen und diese Momente zu genießen, die er bei ihr ist. Sie beschließt, ihre kleine prickelige Affäre zu genießen, solange sie dauert, weil sie ihr gut tut und beschwingt, weil sie sie zum Lächeln bringt und zum Träumen.


Und sie beschließt, diese Leidenschaft und Hingabe, das Lächeln und Träumen in sich zu bewahren und weiterzugeben.


Claudia Nova

verfasst nach einem nicht enden wollenden Gedankenaustausch :-) mit Nadja (www.nadjahermes.ch)


Nachtrag von Claudia:

Ich habe versucht, ein- und dieselbe Sache, nämlich das Verlieben im Job und das meistens damit einhergehende Fallenlassen des Honorars in zwei verschiedenen Blickwinkeln zu beschreiben:

In der ersten Geschichte ist die Dame enttäuscht, fühlt sich ausgenutzt und möchte am liebsten alles ungeschehen machen, und in der zweiten Geschichte besinnt sie sich und genießt, was sie in den Momenten der Zweisamkeit mit ihm erfährt.


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